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Die Borderline Prozession - Laudatio

Kann Kunst oder gar ein einzelnes Kunstwerk den Lauf der Geschichte beeinflussen? Kann ein Roman oder ein Gedicht, ein Gemälde oder eine Photographie, ein Musikstück oder eine Theateraufführung die Welt verändern? Vielleicht sind das aber gar nicht die entscheidenden Fragen. In Wahrheit geht es doch erst einmal um jeden Einzelnen von uns. Im Moment der Begegnung mit einem Kunstwerk tritt im idealen Fall die Welt in den Hintergrund. Das Werk verdeckt und ersetzt sie durch seine eigene Welt, und erst später, wenn wir wieder einen oder auch mehrere Schritte zurücktreten, offenbart sich sein Platz im großen Gefüge der Dinge, das einem dann tatsächlich anders als zuvor erscheint. Das gilt letztlich für jedes Kunstwerk, doch nur die wenigsten beanspruchen so viel Platz, dass sie wirklich eine unauslöschliche Spur hinterlassen.

Eines dieser Werke ist die „Borderline Prozession“. Wer wissen will, was Kunst bewirken kann, sollte sich die Inszenierung ansehen ... wenn möglich gleich mehrfach. Wobei „ansehen“ trifft es eigentlich nicht. Wer sich dieser Prozession anschließt, der setzt sich einem Erlebnis und einer Erfahrung aus, die über das reine Sehen und Hören weit hinausgehen. Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin haben in der großen Halle des Megastores tatsächlich ein Abbild der heutigen Welt erschaffen. Dafür reicht ihnen ein Haus und dessen Kehrseite, eine Straßenszenerie.

Die Welt... das kann einfach eine Küche sein, in der ein Paar beim Frühstück alle Stationen von Liebe und Entfremdung durchläuft, oder ein Schlafzimmer, in dem eine Frau im Kreis ihrer Familie langsam dem Tod entgegendämmert. Alltägliche Ereignisse, die sich immer und überall wiederholen. Und doch sind sie einzigartig. Eine immense Tragik erfüllt auch das Gewöhnliche. Und wie uns das „Borderline“-Ensemble nur durch Gesten und Blicke, kleinste Variationen und immer wieder neue Wiederholungen daran erinnert, ist alleine schon ein Theater-Wunder. Es stimmt eben nicht, dass die Tragik mit den Göttern aus unserer Welt verschwunden ist. Nur liegt sie heute in einem verweigerten Kuss oder einem Blick, der dem eines einst geliebten Menschen ausweicht.

Drinnen und Draußen, Frieden und Krieg, Freude und Angst, Glück und Tod. Auf den ersten Blick sind es klare, eindeutige Gegensätze, mit denen Voges und sein Team spielen. Aber natürlich ist diese Welt nicht einfach Schwarz oder Weiß. An so simple Dichotomien zu glauben, ist im besten Fall eine naive Illusion, im schlimmsten eine gefährliche Verblendung. Und von diesen Illusionen und Verblendungen erzählt die „Borderline Prozession“. Die Dinge vermischen sich konsequent. So ergibt sich ein Panorama in den vielfältigsten Schattierungen.

Aber nicht nur auf der inhaltlichen Ebene fließt alles immerfort ineinander. Auch die einzelnen Kunstformen lassen sich im Lauf des Abends immer weniger von einander trennen. „Die Borderline Prozession“ ist Schauspiel und Musiktheater, Installation und Live-Film, Lesung und Lecture in einem. Also ganz und gar unreine Kunst, und gerade deswegen absolut auf der Höhe der Zeit. Natürlich ist auch heute noch klassisches Sprechtheater denkbar und auch machbar, aber in der Unreinheit liegt eine besondere Macht. Sie eröffnet einem so viele Perspektiven und Horizonte, dass man immer wieder zu dieser Inszenierung zurückkehren kann. Und man entdeckt nicht nur immer neue Details, man erfährt auch jedes Mal etwas Neues über sich selbst.

Wird die „Borderline Prozession“ den Lauf der Welt beeinflussen? Es würde mich freuen, aber darauf setzen würde ich nicht. Kann sie die Menschen, die mit ihr in Berührung kommen, verändern? Mit Sicherheit, und das ist schon einmal ein erster, entscheidender Schritt.

Sascha Westphal, 3. September 2016